Die Geschichte von Eden und Erde

Es war einmal vor langer, langer Zeit in zwei weit voneinander entfernten Galaxien, da entstanden zwei Planeten, die glichen einander wie ein Sandkorn dem anderen. Sie hießen Eden und Erde.

Beide umkreisten eine Sonne der Spektralklasse G2 auf elliptischen Bahnen. Sie kamen ihrer Sonne nie zu nahe und entfernten sich auch nicht zu weit von ihr. Dies, ihre gigantischen Ozeane aus Wasser, die dichte Atmosphäre und die Neigung ihrer Achse um 23,5 Grad gegen die Ebene ihrer Umlaufbahn sorgten dafür, dass auf beiden Planeten paradiesische Temperaturen zwischen minus achtzig und plus sechzig Grad Celsius herrschten. Beide hatten einen Mond und damit ein Magnetfeld, das sie vor dem Sonnenwind aus hochenergetischen ionisierten Partikeln schützen. In beiden Sonnensystemen gab es jenseits der Bahnen beider Planeten zwei gigantische Gasplaneten, deren elliptische Bahnen um die Sonne in einer 2:1-Resonanz zueinander standen und durch diesen planetaren Tanz dafür sorgten, dass das Innere der beiden Sonnensysteme nahezu komplett von Staub, Kleinst- und Kleinplaneten freigeräumt wurden.

Es herrschten so paradiesische Zustände auf beiden Planeten, dass kurz nach deren Geburt etwas ganz Seltenes und Außergewöhnliches geschah: Auf beiden Planeten entstand Leben! Angetrieben durch den immerwährenden Energiestrom der beiden Sonnen schaffte es das Leben auf beiden Planeten, sich zu immer komplexeren Formen zu entwickeln: Von einfachen, sich selbst replizierenden Molekülen zu Molekülverbänden. Von dort weiter zu primitiven Zellen, zu komplexen Zellen und zu Zellverbänden. Es entstanden Bakterien und Algen. Es entstanden Pflanzen und Tiere.

Alle paar Millionen Jahre wurde das Leben auf beiden Planeten von kosmischen Katastrophen heimgesucht. Da raste ein riesiger Komet auf den Planeten zu, durchdrang seine Atmosphäre und schlug mit vernichtender Wucht auf der Oberfläche auf. Hitze und Druck des Aufschlags vernichteten alle Lebewesen im Umkreis von hunderten von Kilometern sofort. Die Staub- und Aschewolke des emporgeschleuderten Materials verdunkelte den Himmel für Jahrzehnte und ließ 95% aller Lebensarten aussterben.

Doch immer wieder erholte sich das Leben. Ja, es entwickelte sich sogar so weit, dass es begann, sich seiner selbst und seiner Umwelt bewusst zu werden. Der Funke des Bewusstseins glomm zuerst nur ganz schwach, doch irgendwann, nach 3,4 Milliarden Jahren, entstanden auf beiden Planeten intelligente Wesen. Spezies, die hinreichend klug war, dass sie sich nicht den ganzen Tag mit Nahrungssuche, Nahrungsaufnahme und Verdauung beschäftigen musste und denen es daher den Rest des Tages unsäglich langweilig wurde. Doch Langeweile führt zu Unzufriedenheit und Unzufriedenheit führt zu Tatendrang:

Sie ersannen Musik und Malerei und Tanz und Dichtung, Sie machten sich auf und breiteten sich auf ihren Planeten aus, organisierten sich zu großen Nationen und verstanden es immer mehr, die Kräfte der Natur für eigene Zwecke zu nutzen. Sie entdeckten Hebel und Seilzug, Eisen und Gips, Kohle und Dampf, Kernspaltung und Halbleiter, Quarks und schwarze Löcher. Sie bauten Häuser und Brücken und Autos und Schiffe, ja, sogar Flugzeuge und Raketen!

Doch nie wurden sie ihre Langeweile und Unzufriedenheit los. Sie wollten mehr, immer mehr und gönnten einander nichts. Sie führten blutige Kriege gegeneinander und beuteten ihre Planeten so sehr aus, dass die Lebensbedingungen unerträglich wurden.

Auf beiden Planeten debattierten die intelligenten Wesen hitzig miteinander, wie sie noch zu retten seien. Eine Gruppe auf beiden Planeten sagte: „Lasst uns mehr Zeit und Energie in die Zähmung der eigenen Gier stecken und lernen, friedlich miteinander und unserer Umwelt zu leben“. Eine andere Gruppe schlug jedoch vor: „Lasst uns die restlichen Planeten und Monde des Sonnensystems erobern um damit mehr Lebensraum und Rohstoffe erschließen“.

Und hier nun begannen die beiden Planeten sich unterschiedlich zu entwickeln.

Die intelligenten Wesen des einen Planeten konzentrierten sich darauf, ihre eigene Gier zu bekämpfen. Sie lernten, zufriedener und friedvoller zu sein, ökologisch zu wirtschaften und saubere Energien zu verwenden. Dieser eine Planet wurde zu einem Paradies.

Die intelligenten Wesen des anderen Planeten jedoch konzentrierten sich darauf, das restliche Sonnensystem zu erobern. Ein Erfolg folgte dem anderen und sie waren mächtig stolz darauf. Doch Gier und Unzufriedenheit wurden sie nie ganz los.

Und nun frage ich euch, liebe Leser: Auf welchem dieser beiden Planeten wolltet Ihr leben? Auf dem einen, paradiesischen, oder auf dem anderen, stolzen?

Etwa ein Jahrtausend, nachdem die intelligenten Wesen auf beiden Planeten unterschiedliche Wege eingeschlagen hatten, wurden beide, am selben Tag, zur selben Stunde, von einem gigantischen Kometen getroffen und vollständig pulverisiert. Das Leben auf beiden Planeten war komplett vernichtet.

Doch während der eine Planet der einzige Träger von Leben in seinem Sonnensystem war, überlebte das Leben des anderen Planeten auf den restlichen Himmelskörpern seines Sonnensystems.

Und noch einmal frage ich euch: Auf welchem dieser beiden Planeten wolltet Ihr gelebt haben?

Diese Geschichte habe ich für das dritte Redeprojekt, "The Moral of the Story", im Handbuch "Storytelling" geschrieben und im Oktober 2017 bei den Ulmer Redespatzen, dem deutschprachigen Toastmasters-Club in Ulm erzählt.